Flieg Robert, flieg!
Dieser im Corona-Jahr 2020 letzte Post besteht aus zwei Hälften: Einem kritischen Kommentar und einer dem Titel zugehörigen Kurzdoku mit bisher unveröffentlichtem Material. Er schließt den Kreis mit der Living Do eigenen Philosophie.
#besonderehelden
Eine Corona-Kampagne der Regierung unter „#besonderehelden“ machte
bundesweit von sich reden. Die Diskussionen darüber sind medial bereits
abgefrühstückt, geschuldet der schnelllebigen Alltagstaktung, die uns in die
Oberflächlichkeit prügelt wie den Sträfling vom Wärter in die Zelle.
Nicht diskutiert wurde über die offen-latente Botschaft der Kampagne. Diese Botschaft hinter dem Plakativen ist es aber, die sich ins Unterbewusstsein drängt — und nachklingt, egal ob abgefrühstückt oder noch auf dem Butterbrot. Das trägt schwer psychologisch und soziologisch. Deswegen ist es Gegenstand dieses Posts.
Die Sache
Das Streitobjekt: Corona-KampagneDer Auftraggeber: Die Bundesregierung
Die Zielgruppe: Generation Z
Der Auftrag: „Kommunizieren Sie den jungen Leute da draußen, sie sollen zuhause bleiben, damit das Coronavirus sich nicht weiterverbreitet.“
Der Titel: #besonderehelden
Das Medium: Drei Video-Clips jeweils von circa 1 ½ Minuten Länge
Hier die Links zu den Clips:
1. Tobi
2. Anton
3. Luise
Gen Z
Die Clips werden zwar von verschiedenen Alterskohorten
gesehen, peilen aber eine ganz bestimmte an: Junge Erwachsene um die 20 — Die [Vertreter
der] Generation Z, kurz Gen Z.
Unzählige Arbeiten, Studien, Artikel, … sind weltweit über diese
Generation Z geschrieben worden. Als Nachfolger der Generation X und der Gen Y
ist sie wie auch ihre Vorgänger, ein wesentlicher Faktor in der Bildung und damit
in der Wirtschaft. Aus ihr generieren sich neue High Potentials wie auch Opfer des
Leistungssystems.
Weder abgezielt auf die Schicht ,gehobene Bildungsbürger‘
noch auf deren Kontrapunkt ,sozial schwache Randgruppen‘, rekrutiert sich das
Gros der Gen Z aus dem breiten Feld der Mitte.
Dieses soll mit den drei Clips als seinem Spiegel [!] abgeholt, getroffen, ja sogar motiviert werden.
Zerrspiegel
Drei Vertreter für den repräsentativen Querschnitt der Gen Z?
Wir sehen den „faulen Tobi“, [20], einen Basecapfetischisten, der autistisch im
PC-Game gefangen, kalte Ravioli aus der Büchse löffelt, weil „zu faul, sie mir
warm zu machen“, und ein junges Pärchen, Luise [?] und Anton [22], der auf dem
Sofa oder Bett liegend und TV zappend Chips ist, Cola trinkt oder frittiertes KFC-Aas
vertilgt. Luise scheint sich noch nach draußen gewagt zu haben, um für sich und
ihren salutierenden Freund eine Pizza zu besorgen, aber auch sie kapituliert
letztlich, schließt das Fenster und nimmt kommentarlos hin, wie Anton den
abgenagten Geflügelknochen hinter sich ins Eck wirft.
Das alles ist nicht cool. Nicht heldenhaft. Es ist: Erbärmlich.
A-soziale Isolation
Diese Darstellung soll die Gesinnung der Generation Z widerspiegeln?
Deren Verständnis für a-soziale Isolation — Japans Hikikomori lassen grüßen — als
heldenhaftem Gebaren zur Eindämmung der Corona-Pandemie? Anton Lehmann:
„Plötzlich war ich ein Held, ein Idol, ein Musterbürger.“
Neben Kindern unterrichte ich seit drei Jahrzehnten Jugendliche und junge Erwachsene = Vertreter der Generation Y als auch Z. Von den meisten — repräsentativer Querschnitt? — wusste und weiß ich um deren Hobbys, Ansichten, Meinungen, Berufsabsichten, … Eine so assige und unreflektierte Haltung wie in dieser Kampagne kolportiert, würde niemand von diesen an den Tag legen.
Ach, Humor?
„Urteile nicht über Dinge, die du nicht überreißt. Ist alles
überspitzt. Alles überzeichnet. Das ist Humoreske und Melodram in eins. Humor, Alter,
Humo-hor! Wenn du den nicht raushören kannst, dann gehörst du halt auch zu den armen
Schweinen, vor die wir unsere Perlen nicht werfen wollen.“
Die Gegenrede an mich von der Agentur, die für das
streitbare Machwerk verantwortlich zeichnet. Rein fiktiv, versteht sich. So
fiktiv wie auch die geskripteten Worte der Protagonisten, die mit so viel Pathos vorgetragen werden, dass ich armes Schwein
echt keinen Humor heraushören kann.
Einfach nix tun
Nein, eben nicht! Das ist die Crux dieser unsäglich
schlechten Kampagne. Sie ist ein Schlag ins Gesicht derer — und diese sind
zahlreich —, die wesentlich sensibler und kritischer sind als die drei Propagandisten
dieser Scheinattitüde. Bewusstes nichts Tun zum Abschalten und Entspannen, das nicht
nur überlasteten Workaholics als Therapie verordnet wird, wird hier nicht
kommuniziert und nicht transportiert. Stattdessen wird Konsumieren suggeriert: Gaming
(wo hat denn der faule Tobi das Geld für sein Equipment her …?) TV glotzen und
Fastfood vertilgen.
Diese drei jungen Erwachsenen — der repräsentative
Querschnitt der Gen Z … — werden als „besondere Helden“ betitelt, nicht obwohl,
sondern gerade, weil sie der Lethargie zum Opfer fallen. Ein Makel wird zum
heroischen Ideal umgedeutet: Ein scheinbarer Geniestreich abgehobener Werbeleute,
die, der wahren Gen Z längst entwachsen und von ihr distanziert, nichts mit ihr
gemein haben.
Mentales und physisches Kontrastprogramm
Mit gleichem Aufwand hätte man drei Clips produzieren
können, die das Gegenteil darstellen: Junge Erwachsene, die ihr erzwungenes zu Hause sein mit
Sinn und Inhalt füllen — ich erspare es mir, hier die unzähligen Möglichkeiten
dazu aufzulisten — und vielleicht mehr denn je nach draußen an die vielbesagte frische
Luft gehen. Das hätte weit mehr der Realität entsprochen. Und entspräche es
auch jetzt. Das belegen zahlreiche Jugendstudien. Drei davon habe ich hier verlinkt.
3 Studien zur Generation Z
https://km-bw.de/,Lde/Startseite/Service/2020+07+02+Jugendstudie+2020
#besondererheld vs. Living Dojin
Der Begriff „Held“, ist inzwischen durch seinen inflationären
Werbegebrauch zur Worthülse verkommen. Von uns — der Living Do-Community — wird
er gar nicht verwendet.
„Living Do“ lässt zwei Übersetzungen zu und bedeutet auch beides:
„Den Weg leben“ und „lebendiger Weg“. Living Dojin heißt der zweiten gemäß,
wörtlich: „Lebendiger Wegmensch“ und steht für den — spirituellen — Wanderer.
Dass die Spiritualität eines jeden Living Dojin höchst
unterschiedlich ist, versteht sich von selbst. Wichtig: Sie ist vorhanden! Und
das — der Dreh- und Angelpunkt — unterscheidet ihn von den Charakteren der
Clips.
Wie mögen keine Helden sein, #besonderehelden schon gar
nicht. Wanderer jedoch sind wir alle. Vom ersten Tag an bis zum letzten. Unsere
Wanderung ist der Alltag. Das Leben ist der Weg.
Wo uns unsere Wanderung — wie der Wind den Fliegenden Robert — letztlich hinbringen wird, wissen wir nicht. Wobei wir am zweiten Teil des Posts angelangt sind …
Der fliegende Robert
Der fliegende Robert ist eine Figur aus dem „Struwwelpeter“
von Heinrich Hoffmann, den er 1844 publizierte. Seit jeher gehört er zu meinen
literarischen Lieblingsfiguren. Und er ist auch fester Bestandteil meiner
Seminare.
Hier noch einmal seine Geschichte:
Skizzen einer Reise
In den Seminaren stelle ich nach der Lektüre die entscheidende Frage:„Was glaubt Ihr, wohin hat der Wind den fliegenden Robert getragen?“
Hast Du Dir diese Frage jemals gestellt?
Die Antwort folgt jetzt. Erstmalig und exklusiv hier und heute in diesem Blog, in diesem Post. In einem dokumentarischen Abriss, entnommen und skizziert aus Roberts Niederschriften, die mir das Schicksal in die Hände spielte.
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Die Regenschirmschule Lummerland
Nach einer turbulenten Reise unter, zwischen und manchmal
auch über den Wolken, verschlägt es Robert auf eine Insel namens Lummerland. Dort
will er eine besondere Schule für besondere Menschen eröffnen: Menschen, die
wie er davonfliegen wollen, um neue Dinge zu sehen. Neue Dinge zu erfahren. Und
neue Dinge zu machen. Er wird ihnen zeigen, wie man den richtigen Regenschirm dafür
entwickelt, herstellt und damit fliegt.
Die idealen Räumlichkeiten in einer verlassenen Werkstatt gefunden, macht er sich voller Eifer an die Arbeit: Er fegt, räumt und putzt … Vom Schildermalermeister Mandulinus Mandelkern lässt er sich ein Werbeschild anfertigen, das er über dem Eingang anschraubt.
Auf einem blütenweißen Blatt Papier tippt er auf dem von Frau
Waas erfundenen „Typographischen Schreibklavier mit Treppentastatur“, das erst
viele Jahre später zur Schreibmaschine weiterentwickelt wurde, einen
ermutigenden Appell für seine zukünftigen Schüler.
Auf ihm tippt er auch seine Erlebnisse, während er auf erste
Schüler hofft.
Diese wollen sich wider Erwarten und zu seinem wachsenden
Gram nicht einstellen. Von Lukas und Jim, zwei Inselbewohnern, ernüchtert,
sieht er ein, dass es für ihn auf Lummerland keine Zukunft gibt. Frau Waas‘ Angebot,
ihren Laden zu übernehmen, schlägt er dankend aus: „Eine Krämerseele bin ich
nicht.“
An einem günstigen Tag, an dem der Regen niederbraust und
der Sturm das Feld durchsaust, lässt sich Robert frohgemut erneut vom Wind
davontragen. Dieses Mal mit sturmfestsitzender Schiebermütze, Niederschriften
und Appell sicher in der Jackentasche.
Über mehrere Stationen, wie der Insel Taka-Tuka-Land, auf der
er mit Kapitän Efraims Vater gegen Piraten kämpft, Captagonien, Mamua Alt
Guinea und den BHmas, auf denen er sich Wonderbratkartoffeln, Pumpselmusen und
Tangarinen schmecken lässt, überfliegt er die Straße von Anián entlang der
Langerhans‘schen Inseln bis nach Sussex, um sich mit dem zauberhaften Kindermädchen
und schwebenden Schirmkollegin Mary auszutauschen. Leider muss er dort erfahren,
dass diese nicht real existiert, sondern eine Erfindung der Schriftstellerin
P.L. Travers ist, womöglich inspiriert durch seinen Schöpfer.
Letztlich wird er auf der großen und weiten Mentalinsel Budosa
sesshaft und findet dort nach einer Durststrecke seine ersten Schirmschüler. Lange
Jahre parallel mit den zwei Musen Karatina und Jujutsulia liiert, löst er sich
von der resoluten ersten und entscheidet sich für die sanfte, der er bis heute
die Treue hält.
In seiner Schirmschule hängt das Blatt mit dem Appell an seine Schüler, das
ihn auf all seinen Reisen begleitet hat. Über die Jahre ist ihm das Weiß abhandengekommen, der Appell aber hat nichts an seiner Strahlkraft verloren. Unverändert steht
dort geschrieben:
Lieber Schüler der Regenschirmschule Lummerland!
Du willst fliegen lernen. Das ist schön. Doch ohne den
richtigen Schirm funktioniert es nicht. Der richtige Schirm ist für jeden
anders und kann nur von einem selbst hergestellt werden.
Dazu brauchst Du Kenntnisse und Fertigkeiten.
Wenn Du Dir den Schirm nach Jahren eifrigen Werkens hergestellt
hast, bist Du ein gutes Stück weit gekommen. Doch zum Fliegen brauchst Du mehr:
Du brauchst Mut. Du brauchst Hoffnung. Du brauchst Hingabe.
Mut bei stürmischem Wetter hinauszugehen. Hoffnung, dort und
dann von der richtigen Bö erfasst zu werden. Und letztlich die Hingabe, sich
vom Wind forttragen zu lassen.
Wenn Du das in Dir hast, steht Dir nichts im Wege, auch ein
fliegender Robert zu werden.
Darum rufe ich dir zu:
Flieg Robert, flieg!
Wir sollten nicht müde werden, an unserem ganz persönlichen Schirm zu arbeiten. Denn die Winds of Corona werden auch im neuen Jahr weiterwehen.
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© Bilder: Axel Schultz-Gora [gmax], außer Nr. 1, Florida Entertainment GmbH, Nr. 5, Warner Bros.